Im Märchen muss der Held oder die Heldin, will er sein Leben in die Hand nehmen und den
Zustand des Verharrens verändern, sich auf den Weg machen. Er muss
losgehen. Das Märchen beschreibt dann den Weg, der zur Erlösung oder zum
Gelingen einer Aufgabe, einer Problemlösung führt. So ist es wunderbar,
wenn sich beim Pilgern die Märchen mit der Landschaft verweben, wir
selbst plötzlich mitten im Märchen gehen und nach Eindrücken oder
helfenden Händen suchen. Plötzlich stehen wir im Wald, sehen den Weg
nicht mehr oder noch nicht. Eine Pause ist nötig. Dann tut sich Neues
auf, Hoffnung keimt neu und der Weg geht weiter......bis zum Ende alles
gut ist.
Kennen Sie einen Weg, der sie schon immer mal gelockt hat? Gehören Sie zu einer Pilgergruppe, die eine geistliche Begleitung benötigt? Dann melden Sie sich bei mir. Gemeinsam können wir wunderbare Pilgertage gestalten und erleben.
Eins meiner liebsten "Weg-Märchen":
Das Brokatbild
"Ist das schön!"
Die Frau hatte noch nie so etwas Wunderbares gesehen. Da hing ein Brokatbild. Ein farbiges .... Da: sie sah sie ein goldenes Haus, einen Park, Obst und Gemüsegarten, Felder , einen Fischteich, Rinder- und Schafherden, Hühner und Enten. Die Frau stand da und schaute.
Sie war selbst eine Brokatweberin. Ihre Arbeiten waren hervorragend. Auf ihren Stoffen schienen die Blumen zu duften, die Tiere zu leben und sogar die Vögel zu fliegen. Sie stellte gute Ware her, die sie leicht verkaufen konnte. Ihre drei Söhne und sie lebten gut davon. Aber dieses Bild zog sie in den Bann. Sie musste es kaufen. Und so nahm sie das Geld, das für einen Monat reichen sollte und kaufte es.
Immer wieder musste sie es anschauen.
"An solch einem Ort möchte ich wohnen….."
Zuhause zeigte sie das Bild ihren Söhnen:
„Mutter, was hast du getan? Wo sind die Lebensmittel?“
„Schau doch, an dem Ort sollten wir wohnen!“
„Mutter du träumst!“
„Wär das nicht schön!“
„Mutter, ja, sicher erst nach unserem Tod! Und der kommt bald, wenn wir nichts zu essen haben!“
„Ich will an solch einem Ort wohnen….und wenn nicht, will ich lieber vor Sehnsucht sterben!“
„Mutter“, so sprach ihr jüngster Sohn…..du kannst selbst so gut weben. Nimm doch dieses Bild als Vorlage..und dann webst du dir ein eigenes. Wenn du immer darauf schaust, dann wird es sein, als ob du schon dort wohntest.“
Ja, ihr Jüngster hatte Recht! Und so machte sie sich sofort an die Arbeit. Tage und Monate vergingen und die Alte webte.
Ihr Jüngster aber verdiente Geld für die Familie mit Holz sammeln.
Die Alte konnte nicht anders,sie webte Tag und Nacht. In der Dunkelheit entzündete sie Kiefernspäne an, damit sie sehen konnte. Ihre Augen litten unter dem Rauch, aber sie wollte nicht aufhören. So tränten ihre Augen und die Tränen tropften auf den Brokatstoff. Da webte sie einen klaren Bach und einen Fischteich inmitten der saftigen Wiesen.
Im nächsten Jahr waren die Augen so gereizt, dass sie rot und wund waren. Blut tropfte aus ihnen auf den Stoff. So webte sie eine rote Sonne und prächtige Blumen.
Im dritten Jahr, endlich war sie mit dem Bild fertig.
Sie nahm es aus dem Rahmen. Ihre Söhne freuten sich mit ihr, so etwas Schönes hatten sie noch nie gesehen.
Da kam der Westwind, riss das Brokatbild mit und führte es ostwärts. Die Alte schrie, der Wind wirbelte das Bild hoch und es verschwand in der Ferne. Der älteste Sohn lief ihm nach, konnte es doch nirgendwo finden. Nach langer Wanderung gelangte er an einen Pass zwischen zwei hohen Bergen. Dort stand ein Haus aus Stein, daneben ein Pferd. Es war auch aus Stein. Es stand dort mit weit geöffnetem Maul, den Hals gereckt hin zu köstlichen Erdbeeren. Als ob es sie fressen wollte.
Vor der Tür saß eine uralte Frau. „Wohin willst du?“ Da erzählte der Älteste wie seine Mutter drei Jahre an dem Brokatbild gewebt habe, nun hat es der Sturmwind gen Osten getragen und er sei fort gegangen es zu finden.
„Oh, das Bild haben die Himmelsjungfrauen vom Sonnenberg. Wenn du zu ihnen willst ist es nicht leicht. Du brauchst nur dem Pferd deine Zähne einzusetzen. Hat das Pferd Zähne, kann es kauen. Kann es kauen frisst es die Erdbeeren, davon wird es stark und bringt dich zum Sonnenberg. Doch zuerst müsst ihr durch den Feuerberg. Steigt das Pferd durch die Flammen musst du die Schmerzen schweigend ertragen und darfst nicht schreien, sonst wirst du verbrennen. Danach musst du das Meer überwinden. Die Wellen türmen sich hoch auf und tragen Eisbrocken mit sich. Du musst den Wogen widerstehen und darfst keine Angst haben, sonst verschlingen sie dich. Nach dem Meer erreichst du den Sonnenberg und dort kannst du das Bild von den Himmelsjungfrauen zurückverlangen.“
„O-weh." Der Älteste faßt sich an den Mund. "Seine Zähne.. ausschlagen….? Und dann die Feuerflammen….Nein!....und erst die Eisbrocken…! Nie!“
„Ich sehe, du bekommst Angst! Du kannst allerdings auch ein Kästchen mit Gold bekommen, damit kannst du mit deiner Familie ein bequemes Leben führen!“
Der Älteste nahm das Kästchen mit dem Gold und kehrte um. Unterwegs aber schaute er in das Kästchen: „Damit kommen wir vier ja nicht weit. Wenn ich es nur für mich nehme, kann ich lange davon leben..sogar wie ein feiner Herr!“ Und so blieb er in der nächsten Stadt und ließ sich dort nieder.
Die Mutter wartete daheim. Sie musste im Bett bleiben, so schwach war sie. Als ihr Ältester nicht nach Hause kam, schickte sie den zweiten Sohn. „Geh du nach Osten, suche das Brokatbild!“
Auch er kam zu dem Pass zwischen den zwei Bergen zu der Uralten und dem Pferd aus Stein. Die Uralte wies ihm den Weg, doch auch er bekam Angst. Er nahm auch das Goldkästchen und ging damit nicht nach Hause, sondern in die große Stadt.
Die Mutter wartete wieder vergeblich. Sie magerte ab bis zum Skelett, weinte so viel, dass sie erblindete. Da sprach der Jüngste zu seiner Mutter: „Die Brüder kommen nicht! Mutter, ich will gehen und das Bild suchen!“ So befahl er seine Mutter den Nachbarn und machte sich auf den Weg.
Schon bald war er am Pass. Die Uralte saß dort vor dem Haus und sie erzählte ihm dasselbe wie seinen Brüdern. „Deine Brüder nahmen das Kästchen mit dem Gold! Tu du es genauso, dann hast du ausgesorgt!“
„Nein, ich will das Bild holen!“- und er nahm einen Stein und schlug sich die Zähne aus. Die setzte er dem Pferd ins Maul und langsam begann das Pferd sich zu bewegen, streckte den Kopf weiter zu den Erdbeeren und fraß davon. Als es genug hatte saß der jüngste Sohn auf, feuerte das Reittier an und gemeinsam galoppierten sie los.
Nach drei Tagen und Nächten gelangten sie an den Feuerberg. Und was erwartete sie dort: rote Flammen schlugen ihnen entgegen, zischend verbrannte die Haut. Aber der Junge ertrug die Schmerzen ohne ein Laut. Bald war der Feuerberg überwunden und das Pferd sprang in das weite Meer. Die Wellen waren hoch und trieben Eisbrocken mit sich. Diese schlugen gegen die beiden. Doch der Junge schreckte nicht zurück, nicht vor Kälte, nicht vor Schmerzen. Und bald waren sie auf der anderen Seite des Meeres.
Nun kam der Sonnenberg. Auf seinem Gipfel stand ein goldenes Haus. Singen und Lachen drang heraus. Das waren die Himmelsjungfrauen. Der Junge trat durch das große Tor und sah, wie die Jungfrauen das Brokatbild aufgespannt hatten. Sie arbeiteten daran, ohne dass etwas zu sehen war. „Warte noch diese Nacht, dann sind wir fertig!“ So sprach eine der schönen Jungfrauen zu ihm. Sie schaute ihn lange an….Und er, er schaute sie auch an und lächelte. Als sie sich umdrehte um weiter zu arbeiten, legte der junge Mann sich erschöpft von der Reise zur Ruh.
Mitten in der Nacht erwachte er und da lag das Brokatbild zusammengerollt auf dem Tisch. „Ich kann nicht länger warten, Mutter ging es so elend. Ich reite ab.“ Und so nahm er das Bild, steckte es in seine Satteltasche und ritt mit dem Pferd der Heimat entgegen. Noch einmal überwand er das Wasser und den Feuerberg. Er kam zum Pass und da stand die Uralte: „Steig ab!“ und die Alte nahm dem Pferd die Zähne aus dem Maul und setzte sie dem jungen Mann ein. Das Pferd bewegte sich nicht mehr. „Geh rasch nach Hause. Deiner Mutter geht es schlecht!“ und so schnell er konnte lief er heim zu seiner Mutter. Zuhause trat er ans Bett und er sah seine Mutter mit dem Tode ringen. Er holte das Brokatbild hervor und zeigte es ihr. Da glänzte das Bild und das Licht heilte die Augen der Mutter. „Lass uns nach draußen gehen!“ Die Mutter erhob sich vom Bett und draußen vor der Tür legten sie das Brokatbild auf den Boden. Dort wurde es größer und immer größer und bedeckte bald die ganze Ebene. Die Strohhütte verschwand und stattdessen stand da ein goldenes Haus, es entstand ein Park, ein Obst- und ein Gemüsegarten, Felder , ein Fischteich, Rinder- Schafherden , Hühner und Enten liefen dort herum. Und Mutter und Sohn standen mittendrin. „Schau nur die Felder, es ist bald Erntezeit…und hier sind Pfirsiche…da….frische Erbsen… Alles was sie in das Bild hineingewebt hatte war Wirklichkeit geworden. Die Nachbarn liefen herbei, ein Fest wurde gefeiert. Es wurde gegessen, getrunken, musiziert und gelacht.
Da sehen die beiden plötzlich vor dem Fischteich ein Mädchen. Es betrachtet die Blumen, als es aufblickt, errötet der junge Mann. „Wer ist sie ?“ fragte die Mutter. „Sie ist eine der Himmelsjungfrauen, bei denen ich das Bild gefunden habe." Das Mädchen lächelt die beiden an: „Du hast mir so gut gefallen, dass ich in der Nacht mich selbst in das Bild gewebt habe…vor lauter Sehnsucht….so bin ich hier…bei dir!“
So lädt die Alte die Jungfrau zu sich ins Haus. Die beiden jungen Leute werden Mann und Frau.
Und so beginnen in dem Tal friedliche und wohlhabende Tage und die beiden leben glücklich, das kann ich euch sagen.
Märchen der Zhuang, China